Ein kulturreiches Frühjahr liegt hinter mir, voll mit Konzerten und Opern, Kunstmessen, Ausstellungseröffnungen, Lesungen - ein Festival jagte das andere, Literatur, Photographie, Musik - jeden Tag kann ich wandeln durch ein Meer von Kultur. Ich lebe in unermesslicher Anregung, in grossartiger Freiheit und in inspirierendem Überfluss am Rande einer Millionenstadt. Ich schätze diese Inspiration für Seele und Sinne überaus.
Und doch beschleicht mich manchmal das Gefühl, all dessen überdrüssig zu werden, so als ob mein innerer Topf überfüllt ist. Etwas muss sich leeren, um wieder neu befüllbar zu werden.
Ich muss mich leeren, um wieder Fülle aufnehmen zu können.
Was passiert also? Rückzug ins so überflüssig neudeutsch formuliert "hyggelige" Heim?
Das auch, aber vor allem: hinausgehen in die Natur!
Die Natur, aus der jede Inspiration gespeist wird.
Rückzugsort, Kraftquelle, Energiespender.
Natur hat Konjunktur, allerorts drängen sich mediale Beiträge ins Blickfeld, die sich mit unserem Verlust der Natur beschäftigen. 'Wanderungen für die Seele' las ich heute, kann ich mir
im Buchhandel kaufen, gibt's allerdings vorerst nur im Rhein/Sieg-Kreis. Was, frage ich mich, machen die Einwohner Bayerns, der Nordseeküste oder gar der Uckermark ohne diese überlebenswichtigen
Ratgeber?
Und auch Peter Wohlleben führt uns durch den Wald, macht uns soziale Wurzelverbände sichtbar, die wir in unseren Familien kaum noch umsetzen und schon gar nicht in der Natur begreifen.
Weil wir da nie hingehen.
Kinder spielen nicht mehr draussen, es gibt keine Kindergangs mehr, die sich gegenseitig mit Matsche bewerfen, abends hungrig und verdreckt nachhause kommen, sie müssen allergiebelastet nachmittags zur Musikschule, zum Sport, zum Fremdsprachenunterricht und hängen ansonsten am Handy - und das schon im Kindergartenalter. Freies Spielen, womöglich mit anderen Kindern und gar draussen, verkommt zum No-Go.
Ich erinnere mich an lange Nachmittage in dem brachliegenden Gelände rund um unser Kölner Neubaugebiet, mit den besagten kinderreichen Schlammschlachten, kaputten Knien durch Stürze beim GoKart-Fahren und einen Lauf in Sandalen durch ein frisch gemähtes Stoppelfeld - blutige Beine hinterlassend und einen Schuh weniger am Fuss folgte ich meinen Eltern.
Ich erinnere mich an allsonntägliche Wanderungen mit meinem Vater durch das Wäldchen, welches direkt an unser Wohngebiet grenzte. Grundsätzlich liefen wir dabei in Gummistiefeln vorsichtig querfeldein, umrundeten Anemonen im Frühjahr und besuchten den Baum mit den frisch geschlüpften Käuzchen, die wir Woche für Woche erst hörten, dann vor dem Bau sitzend beobachteten, schließlich bei ihren Flugversuchen begleiteten.
Im Herbst nahmen wir kleine Laub-Harken mit und schichteten große Blätterhaufen auf, in die wir uns schlußendlich mit Gejauchze hineinplumpsen liessen. Haselnüsse und Bucheckern sammelten wir auf dem Weg und knackten sie am Bahnübergang, in der Nachmittagssonne auf das Öffnen desselben wartend, dabei gaben wir uns gegenseitig Rätsel auf und erzählten unendliche Geschichten.
Auch Wiesen-Champignons sammelten wir auf dem Rückweg, und manchmal fädelten wir sie später zum Trocknen auf, ein strenger unangenehmer Geruch verbreitete sich daraufhin in unserer kleinen Hochhaus-Wohnung.
Wenn es im Winter Schnee gab, konnten wir die Spuren der Rehe, Füchse oder Vögel leichter verfolgen.
Als Kind hätte ich manchen Sonntag gerne anders verbracht, doch wußte mein Vater diese Wanderungen auf immer den gleichen Wegen unterhaltsam, kurzweilig und informativ zu gestalten. Es ist eine gute Erinnerung.
Noch heute kenne ich viele Bäume, ihre Blüten, viele Vögel und Tiere, und gerne verlasse ich auch mal wieder die Wege, laufe querfeldein, durch Bäche und über Baumstümpfe, lausche den Geräuschen
und lasse mich ein, schätze die Bewegung, die intensiven Düfte im Wald, das Sein nur mit mir - ohne artifizielle Animation bin ich ganz bei mir, in der Stille.
Dafür brauche ich weder Outdoorfilme noch Apps, keine Hightech-Ausstattung und keine Power-Riegel - für den Anfang reicht es völlig, überhaupt den Mut zu fassen, sich auf das Natürlichste im
Menschen einzulassen: die Lust an der Bewegung in der Natur.
Sich mit der fremd gewordenen Natur zu befreunden.
Denn im Grünen liegt die Hoffnung.
Und plötzlich füllen sich die Ressourcen auf, kommt die Lust auf kultivierte Anregung zurück, findet Stille Platz neben Musik und Spiel und Tanz - ganz wie es uns gefällt.
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Elke Schenkmann (Samstag, 08 Februar 2020 12:22)
Liebe Stephanie,
wow, so schön beschrieben...
Das Großartige liegt doch oft im Aller-Einfachsten. Und Natürlichsten.
Das geht mir auch immer so, wenn ich rausgehe und z.B. hier im Bergischen Spaziergänge unternehme... Und man kann wirklich stundenlang gehen und trifft ganz oft ... NIEMANDEN!!!
Das ist schon sehr erstaunlich. Wahrscheinlich gucken sich die meisten dann gerade Naturfilme im Internet an...
Echt verrückt, welcher Wandel sich in den ja eigentlich wenigen Jahren/Jahrzehnten seit unserer Kindheit (nicht, weil wir noch so jung wären, haha...) vollzogen hat. Da gibt es echt nicht mehr viele Parallelen.
... aber zum Glück ja auch im Guten: die Kinder haben andere Unterstützung und werden in ihren ersten Jahren auf der Erde nicht mehr als "halbe", "unfertige" Menschen betrachtet wie z.T. noch früher. Sie werden viel ernster genommen in ihren Bedürfnissen. Weniger unter Druck gesetzt und mit dem Gefühl belastet "so, wie sie sind, noch nicht gut = richtig zu sein". Immer erst noch "werden" zu müssen.... Womit unsere Generation sich dann ein Leben lang rumplagt. Lasten, die man dann erst - zum Beispiel bei einem Spaziergang in der Natur... - wieder loswerden darf...
Toll wäre es, die jüngere Generation wieder in die Natur zu führen. Handy-Detox-Events und so etwas gibt es ja schon... Das wird bestimmt in den nächsten Jahren und Jahrzehnten nochmal ein Megatrend.
Peter Wohlleben und "Waldbaden" sind bestimmt nur der Anfang einer BEwegung, die einen Gegenpunkt zu all der Technik-Welle setzen wird...
DANKE, dass Du mit Deinen Beiträgen immer wieder an das Wesentliche im Leben erinnerst.
Liebe Grüße,
Elke